Mittwoch, 15. Mai 2024

Inflation Reduction Act
Was die EU den Milliarden-Investitionen der USA entgegensetzen will

Mit dem Inflation Reduction Act haben die USA ein milliardenschweres Investitionspaket verabschiedet. Die EU sieht darin jedoch eine Gefahr für die europäische Wirtschaft und hat nun eigene Investitions-Pläne vorgestellt.

07.02.2023
    Illustration: Ein Mann befehligt 2 Krane an denen Container mit amerikanischer und EU-Flagge hängen.
    Eskaliert der Streit um den Inflation Reduction Act zu einem Handelskrieg zwischen den USA und der EU? (Getty Images / Wenjin Chen)
    Klimaschutz, Energiesicherheit, neue Unternehmenssteuern sowie günstige Medikamente für Senioren und Zuschüsse zur Krankenversicherung – das alles sind Punkte des Inflation Reduction Act (IRA), zu deutsch: Gesetz zur Reduzierung der Inflation. Um eine Inflationsreduzierung geht es bei dem rund 433 Milliarden Dollar schweren Investitionspaket der US-Regierung unter Präsident Joe Biden jedoch nicht primär. Vielmehr soll die amerikanische Industrie klima- und zukunftsfest gemacht werden.
    Die EU und ihre Mitgliedsstaaten befürchten, dass dies auf Kosten des Standorts Europa geschehen könnte; konkret: angesichts höherer Energiepreise in Europa und attraktiver US-Subventionen, könnten einige europäische Unternehmen in die USA abwandern. Um einen Handelsstreit zu verhindern, verhandelt die EU mit dem Weißen Haus über die Unstimmigkeiten. Einige Länder der Union fordern einen europäischen Gegenschlag – allen voran Frankreich.
    Die EU will zunächst mit einem eigenen Investitionsprogramm antworten: EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und die für Wettbewerb zuständige EU-Kommissarin Margrethe Vestager stellten dazu am 1. Januar 2023 ein Maßnahmenpaket vor. Das soll als Vorlage für den EU-Gipfel am 9. und 10. Februar in Brüssel dienen.

    Um was geht es beim Inflation Reduction Act?

    Der Inflation Reduction Act (IRA) wurde bereits im August 2022 durch die Stimmen der Demokraten im Senat und Repräsentantenhaus verabschiedet. Der US-Kongress bescherte Präsident Joe Biden damit einen wichtigen politischen Sieg vor den Zwischenwahlen im November 2022. Denn mit dem milliardenschweren Gesetz zur Reduzierung der Inflation konnte Biden seine Pläne für ein umfassendes Klimaschutz- und Sozialpaket doch noch umsetzen – wenn auch mit Abstrichen.

    Das Sozialpaket

    Das Gesetz sieht unter anderem 64 Milliarden Dollar für das Gesundheitswesen vor. Mit dem Geld sollen rund 13 Millionen Menschen bei den Kosten für ihre private Krankenversicherung unterstützt werden, indem die während der Corona-Pandemie gewährten Zuschüsse um drei Jahre verlängert werden.
    Darüber hinaus zielt der IRA darauf ab, die Kosten für verschreibungspflichtige Medikamente zu senken. Dazu erhält Medicare, der staatliche Gesundheitsplan für ältere und behinderte Menschen, die Möglichkeit, die Preise für eine begrenzte Anzahl von verschreibungspflichtigen Medikamenten mit den Pharmaunternehmen auszuhandeln. Kosten für verschreibungspflichtige Medikamente, die Medicare-Begünstigte aus eigener Tasche bezahlen müssen, werden ab 2025 auf 2.000 Dollar jährlich begrenzt, der Eigenanteil für das Diabetes-Medikament Insulin ab 2026 auf 35 Dollar monatlich.

    Das Klimaschutzpaket

    Zudem umfasst der IRA das bislang umfangreichste Investitionspaket der Vereinigten Staaten für den Klimaschutz: Rund 369 Milliarden Dollar stellt der Staat in den kommenden zehn Jahren zur Bekämpfung der Klimakrise zur Verfügung – in Form von Zuschüssen, Steuergutschriften und Darlehen. Damit soll unter anderem der Ausbau Erneuerbarer Energieerzeugung gefördert, die Energieeffizienz in Privathaushalten verbessert und Emissionen von Gas- und Kohlekraftwerken sowie landwirtschaftlichen Betrieben, Häfen und Gemeinden reduziert werden.
    Das Gesetz sieht auch die Förderung von Kernenergie und Technologien zur Kohlendioxidabscheidung vor, in deren Weiterentwicklung Petrokonzerne wie Exxon Mobil Millionen von Dollar investiert haben. Rund vier Milliarden Dollar werden für die Bekämpfung einer Mega-Dürre im Westen bereitgestellt, einschließlich der Bemühungen um den Schutz des Colorado River Basin, auf dessen Trinkwasser fast 40 Millionen Amerikaner angewiesen sind.
    Verbraucher sollen durch Steuererleichterungen dazu animiert werden, umweltbewusster zu handeln. Eine davon ist eine zehnjährige Steuergutschrift für Investitionen in Wind- und Solarenergie. Zudem gibt es Steuererleichterungen für den Kauf von Elektrofahrzeugen, darunter eine Steuergutschrift in Höhe von 4.000 Dollar für den Kauf von gebrauchten Elektrofahrzeugen und 7.500 Dollar für neue Fahrzeuge.

    Finanzierung durch neue Unternehmenssteuern

    Finanziert werden sollen die Milliardenausgaben vor allem durch eine neue Steuer für Unternehmen mit einem Jahresgewinn von einer Milliarde Dollar. Diese sollen künftig mindestens 15 Prozent Steuern an den Staat abführen. Betroffen sind rund 200 US-Unternehmen, die den üblichen Körperschaftssteuersatz von 21 Prozent nicht zahlen, oder teilweise überhaupt keine Steuern abführen. Die neue Mindeststeuer soll über einen Zeitraum von zehn Jahren mehr als 258 Milliarden Dollar in die Staatskasse spülen, eine einprozentige Steuer auf Aktienrückkäufe noch einmal 74 Milliarden.
    Weitere Einnahmen in Höhe von 124 Milliarden Dollar erhofft sich die US-Regierung durch eine bessere Ausstattung der Bundessteuerbehörde IRS, die in die Lage versetzt werden soll, mehr Steuerbetrüger zu überführen. Die niedrigeren Arzneimittelpreise für Senioren sollen durch Einsparungen bei den Verhandlungen von Medicare mit den Arzneimittelherstellern gegenfinanziert werden. Insgesamt verspricht sich die Regierung neue Einnahmen von rund 740 Milliarden Dollar, die Gesamtinvestitionen von rund 440 Milliarden Dollar gegenüberstehen. Die Mehreinnahmen von rund 300 Milliarden Dollar sollen zur Tilgung des US-Haushaltsdefizits verwendet werden.

    Wie wird das Anti-Inflationsgesetz in den USA bewertet?

    Biden hatte ursprünglich ein deutlich größeres Klima- und Sozialpaket angestrebt, angesichts von parteiinternem Widerstand musste er aber deutliche Abstriche bei seinen Plänen machen. Trotzdem bewerten der Präsident und seine Partei den IRA als Erfolg und wichtigen Schritt, um die langfristigen Auswirkungen des Klimawandels und der Dürre im Westen des Landes zu bekämpfen. Die Demokraten sind davon überzeugt, dass mit dem neuen Gesetz, die Treibhausgasemissionen in den USA bis 2030 um 40 Prozent gesenkt werden können.
    Ob das IRA darüber hinaus dazu beiträgt, die Inflation zu reduzieren, ist umstritten. So behaupten etwa die Republikaner, dass die neue Unternehmenssteuer den gegenteiligen Effekt haben werde und die Preise weiter in die Höhe treiben wird. Dagegen gehen überparteiliche Analysten davon aus, dass die Auswirkungen der Maßnahmen zumindest kurzfristig kaum spürbar sein werden. Mittel- bis langfristig jedoch rechnen einige Experten, wie etwa die Ratingagentur Moody's Investors Service, mit positiven Effekten – sowohl in Bezug auf die Inflation als auch auf die Reduzierung des Bundesdefizits.
    Auch die Haushaltsbehörde des US-Kongress‘, das U.S. Congressional Budget Office (CBO), rechnet mit einer Defizitreduzierung durch das IRA, allerdings mit einer wesentlich geringeren als von den Demokraten veranschlagt. Statt 300 Milliarden Dollar prognostiziert das CBO lediglich eine Verringerung von 101,5 Milliarden Dollar. Im Jahr 2022 beläuft sich das Defizit des US-Bundeshaushalts laut Schätzungen des CBO auf rund 1,036 Billionen Dollar.

    Wie wird der Inflation Reduction Act in Europa bewertet?

    In der Europäischen Union wird das neue Engagement Washingtons für die Energiewende durch den IRA zwar begrüßt, man befürchtet jedoch, dass das Gesetz europäische Unternehmen benachteiligt und zu deren Abwanderung aus Europa in die USA führt. Die Kritik hatte sich anfangs unter anderem daran entzündet, dass der IRA Steuererleichterungen für Elektromobilität vorsieht, allerdings nur für in den USA produzierte Fahrzeuge. Inzwischen hat Washington in diesem Punkt auch europäischen Autoherstellern Zugang zu dem Subventionsprogramm gewährt.
    Neben dem E-Auto Markt ist der Clean-Tech-Sektor mit zukunftsrächtigen Industrien wie Windkraft-, Solarzellen- und Batterieherstellern ein entscheidender Streitpunkt. Hier sieht EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Firmen in Gefahr. Wenn zu den relativ hohen Energiepreisen noch die Investitionsmittel der Vereinigten Staaten kämen, werde es schwer für die europäischen Unternehmen, sagte sie im Dlf.
    Zwar hat auch die EU in den vergangenen Jahren milliardenschwere Pakete auf den Weg gebracht, um Unternehmen sowie Bürgerinnen und Bürgern zu unterstützen, etwa den europäischen Green Deal, den Corona-Wiederaufbaufonds, Investitionen für den Wiederaufbau einer europäischen Chipproduktion und die Förderung von Batteriefabriken und allein 600 Milliarden Euro, um Unternehmen und Verbraucherinnen und Verbraucher in Anbetracht explodierender Energiepreise zu helfen. Vor dem Hintergrund des IRA braucht es aus Sicht der EU jedoch neue Antworten, um wettbewerbsfähig zu bleiben.
    Bundesfinanzminister Lindner warnte vor „ernsthaften Konsequenzen für die europäische Wirtschaft“. In Deutschland und der EU vermutet man zudem, dass die IRA-Vorschriften gegen die Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) verstoßen. Die EU ist im Übrigen nicht die einzige Verbündete Washingtons, die sich über das IRA-Paket ärgert. Auch Südkorea befürchtet Nachteile für seine Industrie.

    Was wird von der EU erwartet?

    Vor allem aus Frankreich kommt die Forderung, Europa solle mit verstärkter staatlicher Unterstützung eigener Unternehmen reagieren. Allerdings verhindern bislang EU-Beihilfevorschriften, dass Mitgliedsländer Unternehmen, die sich in Europa niederlassen wollen, genauso großzügige Steuererleichterungen gewähren, wie die US-Regierung dies in den Vereinigten Staaten tut. Beispielsweise wird die Ansiedlung von Chip-Fabriken wie von Intel in Magdeburg mit Milliardenbeträgen gefördert. Doch die Summen in den USA, wo es noch andere milliardenschwere Investitionshilfen für den Halbleiter-Sektor und Infrastruktur gibt, übersteigen die europäischen Subventionen erheblich.
    In Deutschland hat Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) vorgeschlagen, im Konfliktfall Quoten festzulegen, wie viel eines bestimmten Produkts in der EU produziert werden muss - wie etwa bei Halbleitern. Diese Position ist aber in Deutschland und der EU umstritten. Im Kanzleramt und in der SPD wird deutlich vor einem Subventionswettlauf und einem Handelskonflikt mit den USA gewarnt. Der CDU-Europaparlamentarier Daniel Caspary betonte, dass eine Europe First-Strategie der EU eher schaden würde. Im Interview mit dem Dlf forderte er stattdessen, finanziell besser ausgestattete Programme für Unternehmen in Europa und eine Reduzierung von Regulierungen.
    Denn die Genehmigung von Subventionen, nach dem europäischen Beihilferecht durch die EU-Kommission, kann sich als langwierig und kompliziert erweisen. Paris und Berlin fordern daher ebenfalls, Genehmigungsverfahren zu straffen und zu beschleunigen. Bundeskanzler Olaf Scholz verwies zudem darauf, dass große Teile des 750 Milliarden Euro schweren Corona-Hilfspakets der EU immer noch nicht ausgegeben seien und nun für Investitionen in Zukunftsbereiche verwendet werden könnten.
    Der Parteivorsitzende der Linken und Vorsitzende der Links-Fraktion im EU-Parlament, Martin Schirdewan plädierte dafür, die Beihilferegelungen zu lockern und gleichzeitig kleinere Staaten über einen Solidaritätsfonds vor Benachteiligungen zu schützen. Um etwa neue Investitionen zu finanzieren, sei eine gemeinsame Schuldenaufnahme zu kurz gegriffen, sagte er im Dlf. Vielmehr müssten – ähnlich wie in den USA geplant – multinationale Unternehmen besteuert werden, Steuerschlupflöcher geschlossen sowie Superreiche besteuert werden.
    Der Wirtschaftswissenschaftler Nicolas Poitiers von der Brüsseler Denkfabrik Bruegel hält eine angemessene Antwort auf die neue US-Subventionspolitik für wichtig, warnt aber vor Überreaktionen. Einige Branchen in Europa seien betroffen, aber längst nicht alle. Er rät davon ab, dafür das gesamte EU-Wettbewerbsrecht über Bord zu werfen.

    Wie reagiert die EU?

    In einer transatlantischen Task Force haben Vertreter von EU und den USA seit Monaten nach einer Konfliktlösung gesucht. In einem wichtigen Punkt ist Washington Brüssel schon entgegengekommen: Und zwar sollen leichte Nutzfahrzeuge wie die in den USA beliebten SUVs und Pick-ups aus der EU gleich behandelt werden wie nordamerikanische. In Brüssel ist man jedoch wenig zuversichtlich, dass der IRA noch einmal umfassend überarbeitet und die protektionistischen Komponenten gestrichen werden. Für den Fall mangelnder Kooperation Washingtons wird in der EU bereits eine Klage bei der WTO erwogen.
    Das Gesetz selbst werde zwar nicht neu aufgerollt werden – in der Ausgestaltung gebe es aber noch viel Spielraum, sagte Robert Habeck (Grüne) am 7. Februar in Washington D.C.. Der Bundeswirtschaftsminister ist gemeinsam mit dem französischen Wirtschaftsminister Bruno Le Maire in die USA gereist, um dort für europäische Interessen zu werben. Habeck und Le Maire wollen damit insbesondere Gesprächsgrundlagen schaffen, zuständig sind am Ende aber nicht die EU-Mitgliedsstaaten sondern die EU-Kommission.
    Außerdem hatte die Kommission bereits am 1. Februar 2023 Vorschläge zur Stärkung des Industriestandorts Europa vorgestellt, den sogenannten Green Deal Industrial Plan (GDIP). Nach Ansicht von Kommissionspräsidentin von der Leyen muss ein dreistelliger Milliardenbetrag in klimafreundliche Technologien investiert werden. Zudem müsse der Zugang zu Fördermitteln für die klimaneutrale Industrie erweitert und beschleunigt werden. Dafür plant die Kommission, die Regeln für Staatshilfen zu lockern, Klimaschutz-Projekte schneller zu genehmigen und Handelsabkommen zur Sicherung knapper Rohstoffe zu forcieren.
    "Da gibt es immer zwei Elemente, bei uns in Europa. Das eine ist Beihilfe – nicht alle Länder in Europa können sich das leisten. Und das Zweite ist ein Investitionsprogramm", hatte von der Leyen zuvor im Dlf erklärt.
    Zum einen soll es langfristig einen Souveränitätsfonds geben, "eine strukturelle Antwort", die Geld für gemeinsame europäische Projekte bereitstellt. Offen ließ von der Leyen, inwiefern dafür ein neues schuldenfinanziertes Programm nötig wäre. Details will sie erst "mittelfristig" nennen.
    Zum anderen soll durch den REPowerEU-Fonds kurzfristig Kreditmöglichkeiten zur Verfügung gestellt werden. Dieser solle den Mitgliedsstaaten helfen, die nicht die Möglichkeiten haben, selbst Beihilfe zu geben, so von der Leyen. In den am 1. Februar vorgestellten Plänen hieß es, die EU werde rund 250 Milliarden Euro im den RepowerEU-Fonds umleiten, um Unternehmen zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen anzuregen.

    Reaktionen auf den EU-Vorschlag

    Bundeswirtschaftsminister Habeck (Grüne) wertete den Green Deal Industrial Plan der EU-Kommission als einen "sehr guten Vorschlag". Zentral sei für ihn, dass die Beihilfeverfahren in Brüssel schneller und effizienter werden.
    Der Bundesverband Erneuerbare Energie begrüßte, dass die EU Milliardeninvestitionen in klimafreundliche Technologien vorsieht. Allerdings müssten auch kleine Länder in der EU von der Industriestrategie profitieren, sagte Verbandspräsidentin Simone Peter im Deutschlandfunk. Hier dürfe kein Ungleichgewicht entstehen.
    "Erwartbar enttäuschend", nannte den GDIP hingegen der wirtschaftspolitischer Sprecher der konservativen EVP-Fraktion im Parlament, Markus Ferber (CSU). Auch Angelika Niebler, Co-Vorsitzende der CDU/CSU-Gruppe im EU-Parlament, wertete die Vorschläge als "Aufweichung der Beihilferegeln". Dies dürfe nicht als Entschuldigung für neue Schuldenfonds herhalten.
    Bernd Lange, Handelspolitiker der SPD, meinte hingegen, die Maßnahmen könnten neuen Handelskonflikten vorbeugen und zum "Gamechanger" werden.
    Quellen: Peter Kapern, Jörg Münchenberg, dpa, afp, rtr, ikl